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Symposium „It’s a Material World – Zur Aktualität materialistischer Kritik“

14.05.2022 || 10.30-18.00 Uhr || Universität zu Köln

„Wer materialistisch denkt, trägt nicht zu seinem Wohlbefinden bei. Ganz im Gegenteil: Einer neuen Studie zufolge macht Materialismus unglücklich“ heißt es im Blog „Alltagsforschung – Wissenschaft, die Wissen schafft“. Steht der ursprünglich philosophische Begriff des Materialismus hier entsprechend dem Alltagssprachgebrauch für eine Gesinnung, die auf Lustgewinn und materielle Güter abzielt, zieht sich die Entwertung einer Lebenseinstellung als „materialistisch“ bereits durch die philosophische Ideengeschichte. Wichtig in der Geschichte des Materialismus ist nicht nur die Beschäftigung mit Leiblichkeit und Materie, sondern auch die Kritik der Religion und Moral, Elend und Leid in der Geschichte, das Verhältnis von Mensch und Natur oder auch die Forderung nach einer besseren Einrichtung der Gesellschaft. Doch stiftet der Begriff des Materialismus – ob in Philosophie oder Gesellschaftstheorie – regelmäßig mehr Verwirrung als Klarheit. Dies betrifft etwa das Verhältnis von Materiellem und Ideellem, die Frage, ob es sich beim Materialismus um einen Weltanschauungstyp handelt, der auf metaphysischen Fragen nach dem Weltganzen antwortet oder die Tauglichkeit der Metapher von Basis und Überbau.

Auch Karl Marx hat seine materialistischen Ansichten nicht systematisch und kohärent dargelegt. Anders als verschiedene Formen des naturalistischen Materialismus konzipierte Marx den Materialismus nicht als eine Theorie der Natur, sondern als eine der Gesellschaft, dessen Geschichtlichkeit aus theoretischen wie praktischem Interesse zum Gegenstand wurde. Im marxschen Materialismus bilden Natur, Gesellschaft und menschliche Praxis gleichermaßen in und durch sich vermittelte Momente eines Ganzen. Gesellschaftliche Verhältnisse sind entsprechend veränderbar und kein Schicksal, da sie das Produkt (nicht-intendierten) menschlichen Handelns sind. Doch scheint dieser kritische Sinn des Materialismus-Begriffs durch verschiedene Spielarten des Marxismus, die etwa einen ökonomistisch-technologischen Determinismus oder eine evolutionär-mechanistische Geschichtstheorie vertreten, heute weitestgehend verschüttet. Stellte die marxsche Gesellschaftstheorie die Bedeutung der materiellen (Re-)Produktion für die Gesamtgesellschaft und ihre Herrschaftsstrukturen heraus, wurde die kritische Einsicht einer Abhängigkeit kultureller Sachverhalte von ökonomischen Sachverhalten – bezogen auf die „Vorgeschichte“ – später zu einem Dogma, einem weltanschaulichen Bekenntnis. Gegen den Dogmatismus eines „dialektischen Materialismus“ wandte sich nicht nur die Kritische Theorie oder der Politische Marxismus, auch die Postmarxistische Kritik entzündete sich an einem entpolitisierten ökonomistischen Materialismusverständnis, ihre Kritik schlug allerdings selbst in eine anti-materialistische Gesellschaftspolitik um. Vor diesem Hintergrund kann materialistische Kritik nicht einfach ein marxistisches Projekt sein: Vielmehr ist sie marxismuskritisch und entwickelt den kritischen Gehalt der Marxschen Theorie produktiv weiter, ohne herrschaftsaffirmative Züge im Denken von Marx und jenen, die auf seinen Schultern stehen bzw. standen, zu ignorieren.

Heute scheinen gesellschaftliche Entwicklungen wie die Care-Krise oder der Klima-Krise dazu beizutragen, dass Grundfragen materieller (Re-)Reproduktion und gesellschaftliche Naturverhältnisse wieder in den Fokus der Kritik geraten. Theorieansätze wie der materialistische Feminismus oder die materialistische Rassismuskritik setzen sich nicht nur historisch-materialistisch mit Geschlechterverhältnissen und Rassismus auseinander und machen Klassen- und globale Ausbeutungsverhältnisse und den Verwertungszwang zum Gegenstand der Kritik. Sie verweisen auch auf Schwächen dekonstruktivistischen Denkens und auf die Unzulänglichkeit jener (Diskurs-)Theorien, in denen Gesellschaft völlig in ideologischen Diskursen aufzugehen scheint bzw. von diesen produziert wird. Auch wenn es fraglich ist, ob es sich bei den skizzierten Entwicklungen bereits um eine Renaissance materialistischer Theorieansätze handelt, möchten wir dies zum Anlass nehmen, uns mit Grundfragen materialistischer Gesellschaftstheorie und ihrer Fruchtbarkeit für Gesellschaftskritik auseinanderzusetzen. Dabei soll nicht einfach gefragt werden, was uns jene Theorie noch heute zu sagen hat – etwa bei der Frage nach einem wünschenswerten gesellschaftlichen Naturverhältnis, den stofflichen Grenzen der Produktion oder für die Bestimmung der objektiven gesellschaftlichen Möglichkeiten emanzipatorischer Praxis heute. Materialistische Kritik soll auch zum Gegenstand ihrer selbst gemacht werden, d.h. etwa Wandlungs- und Verfallsformen materialistischer Theorie materialistisch zu erklären. Nicht zuletzt möchten wir die Bedingungen für eine gegenwärtige (Wieder-)Aneignung materialistischer Theorie und ihr zu aktualisierendes Potential diskutieren.

Aus diesem Anlass laden wir zum Symposium “It`s a material world – Zur Aktualität materialistischer Kritik“ am 14.05.2022 in Köln ein.

Unterstützt wird das Symposium durch den AStA der Universität zu Köln.

Das Symposium wird im Hörsaal XII, Hauptgebäude, Universität zu Köln (Albertus-Magnus-Platz, 50923 Köln) stattfinden.

10.30 – 12.00 || Vortrag von Felix Klopotek:
Materialismus als Kritik der Materialismus. Der Komplex Korsch-Langerhans 

Die materialistische Kritik muss sich selbst materialistisch legitimieren: Was sie erklärt – und wie sie es erklärt –, muss auch auf sie zutreffen; die materialistische Kritik ist somit Gegenstand ihrer selbst.
Das ist eine Aussage hart an der Banalität. Dennoch besteht in der Aufstellung und Durchführung dieses Prinzips die (erste) große Leistung des kommunistischen Aktivisten und Philosophen Karl Korsch (1886-1961). 1923 legte er die Selbstanalyse des Materialismus in seinem damals rasch berühmt gewordenen Werk »Marxismus und Philosophie« vor, das heute als Gründungsdokument eines »westlichen Marxismus« kanonisiert ist und also nicht mehr gelesen wird. Was als Prinzip ziemlich dürr und abstrakt daherkommt, erwies sich praktisch angewendet als hochbrisant. Schon vor 100 Jahren galt zahlreichen sozialdemokratischen Revisonisten und Bereicherern das Marx’sche Werk als Torso, Baustelle, unfertig, voller Konstruktionsfehler. Indem Korsch herausarbeitete, dass sich die Kritik von Marx bestimmten historischen Entstehungsbedingungen verdankte und nur vor dem Hintergrund einer bestimmten Entwicklungsphase der Arbeiterbewegung zu verstehen ist, konnte er auch zeigen, dass für die Marx-Revidierer die gleichen Vorgänge zutreffen: Wo sie auf Fehler und Unzulänglichkeiten der Marx’schen Kritik hinweisen, sprechen sie in Wirklichkeit von sich und ihrer Zeit. Oder besser: die historischen und gesellschaftlichen Umstände sprechen aus ihnen. Damit hatte Korsch Marx den Revisionisten entwunden, und das Werk war wieder offen für die unbefangene Aneignung einer aktivistischen, radikalen Arbeiterbewegung. So sein Kalkül.

Die kommunistische Bewegung, der Korsch »Marxismus und Philosophie« zugedacht hatte, zerfiel schon in den 1920er Jahren und damit löste sich auch der (ersehnte) Zusammenhang von Theorie und Aktion – nota bene: schon vor 1933. Korschs Schüler, Weggefährte und Freund Heinz Langerhans (1904-1976) setzte sich daran – nach seinen Erfahrungen in der sich stalinisierenden kommunistischen Bewegung und leidvollen Jahren im KZ –, den Gedankengang zu radikalisieren: Geschichte ist überhaupt kein gesellschaftliches Feld mehr, auf dem sich proletarischer Aktivismus zurückziehen könnte, die korrekte historische Ableitung des Marx’schen Denkens verbürgt nicht länger die Aussicht auf eine bald wiederzugewinnende Praxis. Stattdessen muss diese Praxis dort gesucht werden, wo sie ultimativ verstellt scheint – unter den Bedingungen des faschistischen/stalinistischen/kapitalistischen Terrorismus.

Korsch und Langerhans stehen exemplarisch für die Anstrengung, die materialistische Kritik zu stärken und zu reformulieren gerade durch die mitleidslose Befragung ihrer eigenen Voraussetzungen. Selbst wenn man zu dem Ergebnis kommt, dass ihre Welt nicht mehr unsere ist, bleibt doch dieses grundsätzliche Verdienst.

Felix Klopotek lebt und arbeitet in Köln. Jüngste Veröffentlichungen: »Rätekommunismus. Theorie und Geschichte« (2021) und »Heinz Langerhans: Die totalitäre Erfahrung. Werkbiographie und Chronik« (2022)

12.15 – 13.45 || Vortrag von Valeria Bruschi:
Anmerkungen zum Verhältnis zwischen Mensch und Natur bei Marx

Ökologische Ideen haben seit einigen Jahrzehnten zunehmend an gesellschaftliche Zustimmung gewonnen. Historisch war ein Großteil der Arbeiter:innenbewegung misstrauisch gegenüber Forderungen eines auf Nachhaltigkeit bedachten Umgangs mit der Natur, in letzter Zeit vertreten einige ökosozialistische Autor:innen eine Lesart des Marx‘schen Originals, die dem Verhältnis zwischen Mensch und Natur eine systematische Stellung einräumen und eine Reihe von ökologischen Fragestellungen in Marx‘ Theorie und Forschung entdecken. Im Vortrag sollen einige Aspekte davon dargestellt werden.

Valeria Bruschi, studierte Philosophin, ist seit 2008 in der politischen Bildungsarbeit zu den Themen rund um die Kritik der politischen Ökonomie tätig. Sie ist Mitautorin des Bildungsmaterials »Polylux Marx« und Mitherausgeberin des Sammelbandes »Das Klima des Kapitals -Gesellschaftliche Naturverhältnisse und Ökonomiekritik« (2022) und unterrichtet zudem in Berlin Deutsch für Migrant:innen und Geflüchtete.

14.45 – 16.15 || Vortrag von Ingo Elbe:
Vom Klassenkampf zum Diskurs-Sozialdarwinismus – Politik bei Marx und im Postmarxismus 

Sogenannte postmarxistische Theorien spielen im akademischen Feld und im politischen Denken der Gegenwart eine bedeutende Rolle. Sie beanspruchten bereits Mitte der 1980er Jahre, ausgehend von einer dekonstruktiven Auseinandersetzung mit marxistischen Politikbegriffen eine neue ‚kontingenz- und konflikttheoretische Perspektive‘ zu etablieren und ein strategisches Werkzeug zur Durchbrechung der neoliberalen Politik reiner Sachzwangverwaltung zu liefern. 
Dabei bewegten sie sich immer weiter weg von marxistischen Konzepten hin zu sozialtheoretischen Positionen, die in der faschistischen Rechten zu Beginn des 20. Jahrhunderts entwickelt wurden. Statt Karl Marx ist am Ende dieses theoretischen Weges plötzlich Carl Schmitt der Säulenheilige dieses Denkens, der mit postmodernen Machttheorien à la Foucault, Derrida und Butler für das linke akademische Milieu aufbereitet wird. 

Der Vortrag zeichnet am Beispiel der Protagonisten des Postmarxismus und der Ikonen des europäischen Linkspopulismus, Ernesto Laclau und Chantal Mouffe, die theoretische Dekonstruktion des Marxismus nach und fragt, um welchen Preis sich dieses Denken von einem materialistischen Politikbegriff verabschiedet hat.

PD Dr. Ingo Elbe ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Philosophie der Universität Oldenburg. Zahlreiche Publikationen zum Thema Marx und Postmarxismus, u.a.: Marx im Westen. Die neue Marx-Lektüre in der Bundesrepublik, 2. Aufl., Berlin 2010; Der Zweck des Politischen. Carl Schmitts faschistischer Begriff der ernsthaften Existenz. In: H. Wallat (Hg.): Moral und Gewalt. Eine Diskussion der Dialektik der Befreiung, Münster 2014; Paradigmen anonymer Herrschaft. Politische Philosophie von Hobbes bis Arendt. Würzburg 2015; Politische Macht, Faschismus und Ideologie. Ernesto Laclaus Auseinandersetzung mit Nicos Poulantzas. In: A. Hetzel (Hg.): Radikale Demokratie. Zum Staatsverständnis von Chantal Mouffe und Ernesto Laclau. Baden-Baden 2017; Die postmoderne Querfront. Anmerkungen zu Chantal Mouffes Theorie des Politischen. In: sans phrase. Zeitschrift für Ideologiekritik, Heft 12/2018 Aktuelles Buch: Gestalten der Gegenaufklärung. Untersuchungen zu Konservatismus, politischem Existentialismus und Postmoderne, 2. überarb. Aufl., Würzburg 2021. Online–Texte unter: https://uol.de/philosophie/pd-dr-ingo-elbe/publikationen